Stell dir vor, du wärst ein Alien und würdest an einem schönen, sonnigen Tag im April auf einer mitteleuropäischen Wiese landen. Du steigst aus deinem Raumschiff und bist geflasht von dem prachtvollen Empfang. Aus dem satten grünen Teppich, der sich vor dir ausbreitet, strahlen ringsumher tausend kleine, goldgelbe Sonnen. Du strahlst zurück – das macht doch sofort gute Laune. Was muss das für ein wonnevoller Planet sein! Vorsichtig trittst du ins kühle Grün und betastest die saftigen, gezähnten Blätter. Was für eine Lebenskraft! Die Bewohner dieses Planeten sind bestimmt ebenso kraftstrotzende und glückliche Wesen, wenn sie von solchen Mitbewohnern umgeben sind – und dabei weißt du noch nichtmal, dass man sich als Mensch dieses Kraut sogar einverleiben kann…
Leider haben das auch viele Menschen vergessen, die den Löwenzahn, ihren treuen Begleiter, meist als Unkraut betrachten. Sie jagen mit ihrer wertvollen Lebenszeit Geld und Gold nach, während die wirklich kostbaren Golddukaten völlig unentgeltlich zu ihren Füßen liegen, weich und strahlend und lebensspendend, umsummt von Bienen und Hummeln. Der Frühling mit seinen steigenden Temperaturen lädt auch wieder zum Barfußgehen ein. Hast du als (Menschen-)Kind früher auch mit den Zehen Löwenzahnblüten gepflückt? Und zu goldenen Ketten geflochten, die dich zur Wiesenprinzessin krönten?
Dann kam der Ruf der Mutter zum Essen und du wurdest wieder mit Tiefkühlspinat sozialisiert… „Paß auf, Löwenzahn ist giftig!“ hieß es vielleicht, dabei hatte Mom nur Angst vor den hartnäckigen Flecken des Milchsaftes in den Klamotten oder sie wusste es einfach nicht besser. Nein, Löwenzahn ist nicht giftig, kein Teil davon. Man kann die ganze Pflanze mit Stumpf und Stiel wegfuttern, was ich in diesem Frühjahr auch mit Wonne tue. Bei den Exemplaren, die ich mich doch entschließe zu jäten, damit auch andere Pflanzen einen Platz bekommen. Das ganze Kraut ist ein Elixier für unser Verdauungssystem, es regt die Magensäfte an, wirkt appetitanregend und krampflösend. Die Wurzel ist dabei besonders leberwirksam, sie fördert die Produktion der Gallenflüssigkeit, verbessert den Fettstoffwechsel und wirkt cholesterinsenkend. Das Aufbau-Tonikum, das dem Ginseng nicht nachsteht, bringt all unsere Säfte ins Fließen, stärkt auch die Nieren und wirkt harntreibend, dabei versorgt er gleichzeitig den Organismus mit wichtigen Mineralstoffen. Studien belegen sogar krebshemmende Eigenschaften der Löwenzahnwurzel.
Aus dem reichhaltigen Vitamincocktail sticht besonders Beta Carotin hervor, das im Körper zu Vitamin A umgewandelt wird. So verhelfen die kleinen Sonnen uns nicht nur über die Psyche zu strahlenden Augen, sondern auch organisch zu besserer Sehkraft. Bekanntlich ist Vitamin A fettlöslich, so bietet es sich an, einen leckeren Salat mit einem hochwertigen Öl aus der Pflanze zu bereiten. Der hohe Kaliumgehalt im Löwenzahn reguliert im Team mit weiteren Mineralstoffen physiologische Prozesse in den Zellen, das Gleichgewicht des Säure-Basen-Haushalts, den Hormonhaushalt, Gefäß- und Nervenfunktionen. Kalium sorgt außerdem im Verbund mit Calcium, das z.B. die Brennnessel reichlich im Gepäck hat, für stabile Knochen. Und mit seinem Eisengehalt für die Blutbildung steht der Löwenzahn seiner stacheligen Schwester nur wenig nach.
Im Unterschied zu fast allen anderen Kräutern ist der Löwenzahn übers Jahr unser treuester Begleiter. Ich konnte mich den letzten milden Winter hindurch tatsächlich durchfuttern mit Löwenzahnblättern, jeden Tag ein Händchen voll von dieser und jener kleinen Blattrosette. Ab März konnte ich dann beobachten, wie die Pflanzen täglich an Kraft und Größe zulegten. Oft wird empfohlen, die Blätter nur bis zur Blüte zu ernten, dann würden sie bitterer. Hey, großartig! Bitterer bedeutet, NOCH wirksamer fürs Verdauungssystem! Und ehrlich gesagt, ist mir da bisher auch kein großer Unterschied aufgefallen. Vielleicht bin ich durch den täglichen Genuss so eingetunt, dass ich beim hingebungsvollen Verspeisen mit den unmerklichen physiologischen Rhythmen des Löwenzahns mitgehe, so dass er einfach immer gut schmeckt.
Das Powerkraut begleitet uns nicht nur durch die Jahreszeiten, sondern auch an die verschiedensten und unwirtlichsten Orte. Ob im gut gedüngten Tomatenbeet oder zwischen den Ritzen der Terrassensteine – die Lebenskraft des kleinen Sonnenträgers drängt überall ans Licht, bisweilen sogar durch Asphalt. Ob im Schatten oder in der Gluthitze, mit viel Regen oder karger Benetzung – der zähe Bursche passt sich überall an. Mit seinen Pfahlwurzeln erreicht er auch Feuchte aus tieferen Schichten, lockert die Erde und zieht Nährstoffe nach oben. Kommt der Mäher und senst die goldenen Köpfe ab, treibt das Kerlchen unverdrossen neue Blüten, dann klugerweise entsprechend tiefer. An den manchmal meterlangen Wurzeln sammeln sich im Herbst Regenwürmer und andere nützliche Gartenbewohner. Kräuterexperte Wolf-Dieter Storl nennt die Wurzel des Löwenzahns „Milchstube für junge Regenwürmer“. Nicht zuletzt bieten die puscheligen Korbblüten den Insekten reichlich Nektar und mineralstoffreiche Blütenpollen, die auch mancher Imker gerne zum menschlichen Genuss am Bienenstock absammelt. Manche verwenden die Blüten gern zur Herstellung von Löwenzahnhonig, der dem Bienenhonig geschmacklich kaum nachstehen soll. Die Blütenknospen kann man wie Kapern einlegen. Und die Wurzel kann im Herbst – dann hat sie am wenigsten Bitterstoffe – zur Herstellung eines Löwenzahnwurzelkaffees verwendet werden. Wenn man es über sich bringt, die jungen Regenwürmer ihrer Milchstube zu berauben…
Jetzt, in dieser Zeit der frischen Wildkräuterfülle, schwelge ich täglich in Wildkräutersalat, mit geraspelter Roter Bete, Möhren oder Rettich und Apfel, dazu Sonnenblumen- und Kürbiskerne. Kernkomponente ist natürlich der aromatische Löwenzahn. Wenn ich die ganze Pflanze habe, schrubbe ich die Sandpartikel ab und schneide die Wurzeln in feine Rädchen, den Rest in größere Stücke. Besonders delikat ist der knusprige Strunkansatz, in dem vielleicht auch noch Blütenknospen sitzen. Aber unsere Darmflora freut sich über Vielfalt, deshalb gibt es immer einen bunten Strauß Begleitkräuter dazu. Etwa junge Gierschblätter, Spitzwegerich, Knoblauchraukentriebe mit Blütenkopf, Vogelmiere, Labkraut, kleine Triebspitzen des intensiven Gundermanns, Dost, Triebrosetten vom kleinen Weidenröschen, Blätter von Knopfkraut, Hohlzahn und Gänsedistel.
All diese Pflanzen gelten auch als Heilpflanzen. Da fragt man sich, ob man sich wohl eine Überdosis Gesundheit abholen kann… aber solange es schmeckt, sag ich mir, kann es nur gut sein. Und zur Not gibt’s als Ausgleich mal ne Bratwurst. Natürlich nur Bio und von Nachbars löwenzahnbesonnter Weide.
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Hast du eigene Erfahrungen, Ideen und Rezepte zum Löwenzahn? Ich freue mich, wenn du sie teilen magst!