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Der Krieg ist vorbei

Simone

Erschöpft sinkt die junge Frau auf dem Boden des Rettungsbootes zusammen. Sie hat ihre Familie verloren, musste zusehen, wie Vater und Brüder ermordet und ihre Schwester vergewaltigt wurde. Dann war sie gegangen, ins Ungewisse. Die Strapazen der Flucht hatten auch sie fast das Leben gekostet. Helfer zogen sie aus dem Wasser, als ihre Kräfte und ihre Hoffnung schwanden. Sie atmet tief und schwer. Nach Wogen von Tränen und Trauer breitet sich Ruhe auf ihrem Gesicht aus. „Der Krieg ist vorbei,“ haucht sie.

Gebeugt steht eine Frau mit ergrautem Haar vor einem Grabhügel. Sie ergreift die Hand eines Menschen, der sich ihr vorsichtig nähert. Es ist der Mann, der ihren Sohn erschossen hat. Ein junger Kerl, er könnte ihr eigener Sohn sein. War der einzige Unterschied, dass er schneller geschossen hat? Ihre Augen, in denen Mutterliebe, die keine Grenzen mehr kennt, sich über einem Meer aus Schmerz schließt, tasten sich vor in den unsicheren Blick des jungen Mannes. „Der Krieg ist vorbei,“ raunt sie. Mit sanftem Lächeln drückt sie seine Hand.

In den Trümmern eines Stadtviertels streift eine Bande Jugendlicher herum. In den Auslagen geborstener Schaufensterscheiben sammeln sie ein, was ihnen interessant erscheint. Aus dem Hintergrund des Ladens steigt ihnen ein junger Mann entgegen. „Heyhey!“ ruft er drohend. Es ist der Sohn des Besitzers. Seit Jahren hatte es Stress und Rivalitäten zwischen ihm, seinen Freunden und diesen Kanaken gegeben. Jetzt lag alles in Schutt und Asche. Und die Geier bedienten sich… Er stellt sich dem Bandenführer entgegen. Sein Kopf ist verbunden, aus dem Ohr sickert Blut. Er hebt die Faust, ihre Blicke kreuzen sich. Immer war es um Machtgerangel gegangen, um Territorien und Ehrgefühle. Jetzt hatte der Staub der Geschichte das Territorium begraben. Lag darunter noch eine Zukunft? Und wenn ja, welche? – Sie schauen sich in die Augen. Darin glimmt eine Unbeugsamkeit, ein Wille nach Leben. Leben, das fordert, gesehen zu werden. Ein Aufblitzen, kaum wahrnehmbar. Etwas verwandelt sich. Es ist ein plötzliches Erkennen. Das Erkennen im anderen. Der Mann mit dem Verband lässt die Faust sinken. Dann hebt er sie wieder, langsam, öffnet die Finger und erfasst die ihm entgegentastende Hand seines Gegenübers. Seine Stimme ist rau, aber klar. „Der Krieg ist vorbei, Bruder.“

Der Bauer lässt den Blick über sein Land schweifen. Wenig ist noch erkennbar von dem Stück Erde, das er liebte und seit Generationen bewirtschaftete. Im schlammzerfurchten Acker steckt ein rostender Panzer. Die Bäume des angrenzenden Waldes, aus dem früher die Nachtigallen sangen, wurden brachial umgestürzt und zu Verteidigungsstellungen verbaut. Geschosse zerfetzten das Holz, menschliches Blut mischte sich mit dem Blut der Bäume. Nun sind die Gefechtsschwaden verraucht. Der Bauer atmet tief durch. Es ist sein Land, immer noch, seine geliebte Erde und die seiner Kinder. Und es gibt viel zu tun. Er krempelt die Ärmel hoch. „Der Krieg ist vorbei!“ schreit er in den Himmel, wieder und wieder. Er breitet die Arme aus, schreit die Sonne überm Horizont an, den Schwarm Wildgänse, die über seinem Kopf ziehen und nach ihrem Nistplatz Ausschau halten. „Hey ihr, der Krieg ist vorbei!“ Der Bauer lächelt entschlossen. Die Natur wird zurückkehren. Er weiß es, er lebt aus derselben Kraft, die jedes Jahr die Erde aufblühen lässt. Er kickt einen Stein in die Luft. „Der Krieg ist vorbei!“ Der Stein fällt zu Boden, trifft eine Miene, die mit lautem Knall explodiert. Tausend Brösel regnen zur Erde, bereit, die Saat für die neue Ernte aufzunehmen.

Mit fester Miene blickt der Staatschef in die Kamera. Von Dringlichkeit und Pathos getragen ist seine Rede an die Bevölkerung. Durchhalteparolen an das gemarterte Volk und Beschwörungen seiner Stärke, Einheit und Ehre. Beschwörung des zu erringenden Sieges, der immer nur wenige Wochen, wenige Opfer entfernt sei. Sein Blick wechselt vom Manuskript zur Kamera hin und her. Es ist wichtig, dass er sich nicht verheddert. Dass er Ruhe, Stärke und Sicherheit ausstrahlt für sein erschöpftes und verunsichertes Volk. Ein leichtes Rumoren wird hörbar. Eine Hand streckt ihm von der Seite einen Zettel entgegen. Er schaut darauf, flüchtig erst, redet weiter, dann sieht er wieder auf den vor ihm liegenden kleinen Zettel. Er wirkt konsterniert, unterbricht für einen Moment seinen Redefluss. „Der Krieg ist vorbei!“ steht da. Was soll das? Was geht hier vor? Ist nicht ER es, der darüber entscheidet, wann der Krieg vorbei ist? Wer und was steckt dahinter? Die unvermittelte Pause wird länger. Er hat den Faden verloren. Sein Blick verengt sich. Sein Kampf folgt dem Ziel einer großen Vision. Das darf er nie vergessen und das soll auch sein Volk nie vergessen. Sein Blick geht in die Weite. Vor dem inneren Auge sieht er ein großes Reich mit Menschen, die sich freudig begrüßen, die frohgemut ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen. Menschen, die mit Leidenschaft an Lösungen tüfteln, um das Leben besser zu machen. Menschen, die mit bahnbrechenden Entwicklungen und ungeahnten Leistungen immer wieder Grenzen des Machbaren erweitern. Aber auch Menschen, die mit kraftvoller Kreativität und mit feinsinniger Phantasie das kulturelle Leben bereichern. Menschen, die sich achtsam und fürsorglich um Kinder, Alte und Kranke kümmern. Die sorgsam die Erde bewirtschaften und pflegen, das Erbe aller nachfolgenden Generationen. Er sieht ein Rathaus, davor eine Gruppe Menschen im Gespräch, daneben spielende Kinder. Ein Fahnenmast steht da. Er versucht, die Flagge zu erkennen. Sind es die Farben seines Landes? Ja. Auch. Aber noch viele mehr. Und es scheint, als ob etwas auf der Flagge geschrieben steht. Etwas ungelenk, wie mit breitem Pinsel von Kinderhand aufgetragen. Er entziffert: „D-e-r   K-r-i-e-g   i-s-t   v-o-r-b-e-i“. Sein Blick geht ins Leere. Er lässt sein Manuskript sinken. Nach langen Momenten steht er auf und verlässt den Raum. Die Kamera läuft. Auf dem Schreibtisch liegt verlassen das Durchhaltemanuskript. Darauf ein kleiner, aufgefalteter, unschuldiger Zettel.

„Komm rein, Mio, das Essen ist fertig!“ Die Mutter ruft es in den Garten hinaus, in dem ihr kleiner Sohn sich mal wieder irgendwo versteckt hält, vertieft in spannende Spiele mit Tieren, Pflanzen, Stecken und Steinen, mit Höhlen und Hütten. „Jahaaa, ich komme… gleich,“ ertönt es gedehnt aus der Ecke hinter dem Teich. Einen Moment später springt der Filius herbei. „Was gibt es denn?“ ruft er neugierig im Herbeilaufen. „Kartoffelpuffer, das hast du dir doch gewünscht!“ „Jippieeh!“ Mio entert die Küche. Als er an den Tisch tritt, verdüstert sich sein Gesicht. Er sieht die Zeitung da liegen, darauf eine Schlagzeile – Kommt jetzt der nächste große Krieg? Er verteilt die Teller, die ihm die Mutter reicht. Auf einmal ist sein Lieblingsessen nicht mehr so wichtig. „Mama,“ sagt er zögerlich, „in der Zeitung steht, es gibt Krieg… stimmt das?“ Die Mutter seufzt. Sie räumt die Zeitung beiseite. Dumm von ihr, sie hier liegenzulassen. Sie weiß es und wird es Mio so nicht sagen. Der Krieg kommt nicht. Der Krieg ist. Jeden Tag. Überall auf der Welt. Er ist in unseren Gedanken und belagert unsere Seelen. Er verengt unsere Herzen und die Angst nährt den Krieg. Aber sie weiß noch mehr. Sie dreht sich zu Mio, hockt sich vor ihn hin. Nimmt sein Gesicht in die Hände und schaut ihm tief in die besorgten, unschuldigen Augen. Dann schließt sie ihn in die Arme und sagt mit fester Stimme: „Mio, mach dir keine Sorgen. Der Krieg ist vorbei.“ Lächelnd streicht sie ihm eine Strähne aus dem dreckigen Gesicht. Mios Augen leuchten wieder. „Cool, der Krieg ist vorbei!“ juchzt er. „Und was kommt jetzt?“ Die Mutter lacht. „Jetzt gibt es lecker Kartoffelpuffer!“

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