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Mehr Wildheit wagen

Simone

In unserer von uns Hausbewohnern vielbewanderten Rasenfläche ließen wir diese Saison beim Mähen Wieseninseln stehen.

Anstoß dazu gab der partiell üppig blühende Weißklee und Büschel von Echter Kamille, die auf Maulwurfshügelbrachen Heimat gefunden hatten. Der Unterschied in der Insektenpopulation ist verblüffend. In der Wiese ein buntes Gewimmel, während sich auf dem Rasen allenfalls hier und da eine Schmeißfliege sonnt. Auch in den Beeten und entlang der Wege grassiert in diesem Jahr der selbstausgesäte Bewuchs. Mit der üppigen Gemüseversorgung durch unsere Solawi schwand der Ehrgeiz, einen bedeutsamen Teil zur Selbstversorgung aus der eigenen Scholle zu schöpfen. Dagegen herrscht in weiten Teilen des Landes Hungersnot für die Insekten. Also lass doch mal der Natur mehr Raum für das, was sie so vorhat, dachte ich mir. „Mehr Wildheit wagen“, diese Botschaft nahm ich beim allfälligen Jäten als Devise auf und ließ noch mehr Nischen für das wilde Grün und allerlei Beikräuter in den Beeten. Hoch schossen allerorten die piksigen Karden, die ich nur an Durchgangsstrecken entfernte, dazwischen Storchschnabel, Spitzwegerich, Rainkohl, Vergissmeinnicht, Johanniskraut, Nachtkerze, Dost… Willkommen geheißen wurden die imposanten Königskerzen, hatte ich doch schon letztes Jahr in Vorfreude die Blattrosetten der zweijährigen Pflanze gehütet. Buschartige Horste bildete die Kreuzblättrige Wolfsmilch über den gesamten Gemüsegarten verteilt, die ich einst als Wühlmausabwehr auf einem Hochbeet installiert hatte (tatsächlich sind die Mäuse weitgehend in die Rasenfläche und krautige Randzonen abgewandert). Eine faszinierende Pflanze wie eine Skulptur, die sich fraktalartig entfaltet und deren unscheinbare grüne Blüten offenbar einen Nektar absondern, der ein breites Besucherspektrum von der Hummel bis zur Wespe begeistert.

Eines Tages der Schock, als mein Blick auf die prächtige Salbeistaude vor unserem Draußen-Essplatz fiel. Sämtliche Blattunterseiten waren üppig mit Blattläusen bevölkert, es müssen tausende gewesen sein. Ich glaubte mal, das Ungeziefer gehe nur an geschwächte Pflanzen – Pustekuchen! Und jetzt? Neudorff? Schmierseife? Brennnesselsud? – Erstmal durchatmen. Und dann rückte mir ins Bewusstsein, dass dies ja ein lecker gedeckter Tisch für Marienkäfer und vor allem ihre Larven sei. Und beschloss, erstmal auf die Ankunft dieser Partygäste zu warten. Hatte nicht Waldflüsterer Peter Wohlleben davon geschrieben, dass befallene Pflanzen Botenstoffe aussenden, um die Fressfeinde ihrer Peiniger anzulocken?

Eine Woche verging. Keine Marienkäferlarven in Sicht. Die gequälten Salbeiblätter warfen kleine Buckel. Ich suchte die Umgebung ab nach den ersehnten Nützlingen – nichts. Nach zwei Wochen waren die Blätter immer noch eng besetzt, aber bei näherem Hinsehen waren viele Punkte nur noch flockige Hüllenreste der saugenden Insekten. Wer mochte das gewesen sein? Ich konnte keinen Partygast beim Schmausen entdecken. Nach drei Wochen schließlich fand ich keine fröhliche Laus mehr auf dem Salbeibusch, nur noch Brösel als letzte Botschaft der ehemaligen Besiedler. Und ich hatte über Gartenkollegen dazugelernt. Die saftigen Blattläuse haben noch jede Menge kulinarischer Liebhaber außer den Marienkäfern: Schwebfliegen(larven), Florfliegen(larven), Ohrenkneifer, Raubwanzen, Wespen und Schlupfwespen, Hornissen und kleine Singvögel, allen voran die Blaumeise. Dieses ganze Volk tummelt sich in großer Zahl in unserem halbwilden Garten, der zum Winter nicht sauber aufgeräumt wird, eher bekommen die Beete noch einen Schwung Laub obendrauf.

Und nachdem die letzten Läuse am Salbei vertilgt waren, tauchten auch sie endlich aus der Versenkung auf: Marienkäferlarven und allerlei fertige Käfer mit glänzendem Frack in rot, schwarz, gelb und schwarzweiß. Show goes on!

„Da hättste ums Haar das köstliche Läusebuffet mit Schmierseife versaut, igitt!“ Mathilda schüttelt sich. „Ähja… danke für den rechtzeitigen Tipp“, grinse ich leicht verschämt. Mathilda malt verträumt mit dem Finger Kringel in vorsichtigem Abstand rund um die Trichter der Ameisenlöwen in der Spreu unseres Draußenwohnzimmers. Mit staubigem Finger piekt sie meine Nase. „Schonmal was von der Kässpätzlephilosophie gehört?“ „Ehm, du meinst…“ „Genau. Alles hängt mit allem zusammen.“ Sie malt ein breites Grinsen in die Spreu mit zwei Augen aus Ameisenlöwentrichtern.

„Und, wann machst du mal wieder Kässpätzle?“ Sie kostet den staubigen Finger. „Morgen…?“ schlage ich vor. „Super! Aber ohne Schmierseife, ne?“ droht sie mit spuckenassem Finger. „Vielleicht mit Brennnessel…“, sinniere ich. „Wär mal ne spannende Variante“, stimmt Mathilda zu und springt auf die Beine. „Ich frag mal die Falter, ob sie uns was gönnen von ihren Brennnesseln.“ Bei unserem Brennnesseldschungel! Aber ist klar, wir sind nicht die einzigen Partygäste…

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